GRÄBER IN MEXIKO
2016 zeigte die Kunsthalle Mannheim eine Ausstellung mit Collagen von Hannah Höch (1889 1978), einer Revolutionärin der Kunst“, wie der Ausstellungstitel sie bezeichnete. Sie brach im Kreis der „Dada“Bewegung vor nunmehr über 100 Jahren radikal mit traditionellen Kunstvorstellungen und gilt als (Mit)Erfinderin der Technik des Collagierens, also der Verbindung von Bildelementen aus unterschiedlichen Quellen mittels Schere und Klebstoff. Die junge Künstlerin Judith Grassl hat ein in den späteren Fünfziger Jahren entstandenes Werk der Höch mit gleichnamigem Titel als Anregung für ihre eigene künstlerische Umsetzung genommen. „Gräber in Mexiko“ ist zwar pure Malerei, in der Verbindung verschiedener Gestaltungsweisen erinnert diese jedoch durchaus an eine Collage. Zunächst erscheint es, als wäre ein großes Objekt mit nach oben wachsenden Wurmfortsätzen in einer abstrakten Landschaft gelandet. Auf dem dunkelgrauen Boden, an den nach einem guten Viertel der Bildhöhe ein hellgrauer Hintergrund anschließt, ist ein Schlagschatten zu erkennen. Der Hintergrund wird auf der linken Bildhälfte von einer hellblauen, bergartigen Kulisse mit scharfen, spitzen Zacken bis an den oberen Bildrand verstellt, die sich nach oben auf hellen. Rechts ist eine mondartige Kugel zu erkennen. Und das helle Grau des Hintergrundes scheint in der Mitte eben falls heller zu werden, sodass ein räumlicher Effekt entsteht, eine leichte Wölbung nach vorne. Gegen diese räumliche Modulation der Flächen steht das Innenleben des Objekts. Hier finden sich gestische Pinselstriche, Verläufe und Schlieren nasser Farbe, die mit zwei dunkelgrünen Formen kontrastieren. Diese Formen erscheinen wiederum wie die Flächen des Raums durch HellDunkelVerläufe moduliert. Mit etwas Fantasie wirkt die linke wie die abgeschnittene Kontur eines Sarges, die rechte wie eine Pflanze mit drei großen Blättern. Und schließlich erinnern die Wurmfortsätze an mexikanische Säulenkakteen, womit wir beim Titel angelangt sind.
Zackengebilde und Pflanzenformen finden sich auch bei Hannah Höch. Für Judith Grassl stehen sie für parallele Welten, die blaue Ferne erscheint wie eine Fata Morgana in staubtrockener Wüste, wo nur Kakteen existieren – und der Tod zuhause ist. Allerdings nicht der düstere, schwarze Gevatter aus unseren Breiten, sondern sein fröhlich gefeierter mexikanischer Verwandter. Judith Grassl kopiert Höchs Collage nicht, sondern nimmt sie als Ausgangspunkt für ihre Malerei. Die exakt gezogenen Grenzen der Flächen erzeugen einen Ausschneideeffekt, den sie mit gestischer Pinselführung kontrastiert. Inhaltlich fasziniert die Malerin der Aspekt der Veränderung im Laufe der Zeit. Die Malerei ist eine Erinnerung an eine Collage, die wiederum selbst auf Klischees, also bereits gefertigte Bilder, Bezug genommen hat.
Text: Jochen Meister
© Judith Grassl 2021 | Imprint
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© Judith Grassl 2021 | Imprint
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