24.09. 2021 – 05.11.2021
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BILDEN SEIN SCHWINDEN
Judith Grassls Bilder sind - formal wie inhaltlich - vielschichtig. Sie sind ebenso klar wie verklärend. So offen wie geschlossen. Organisch, anorganisch, spitz und weich. Ihre Arbeiten spielen dabei mit ihren Wirklichkeitsebenen: da finden sich Bilder von Bildern in ihnen, da muten Pflanzenblätter wie Papier an, da ist die vermeintlich ideale Haarsträhne feinmalerisch und das Holzbrett hölzern gemalt. Wie auch die Formen werden ganz unterschiedliche Malweisen extrahiert und nebeneinandergestellt. Max Ernst fasste dieses Phänomen so treffend mit folgenden Worten zusammen: „Collage-Technik ist die systematische Ausbeutung des zufälligen oder künstlich provozierten Zusammentreffens von zwei oder mehr wesensfremden Realitäten auf einer augenscheinlich dazu ungeeigneten Ebene - und der Funke Poesie, welcher bei der Annäherung dieser Realitäten überspringt.“[1] In ihren unterschiedlichen Bedeutungsebenen, ihren „wesensfremden Realitäten“ kommen uns Judith Grassls Bilder mal ganz nah und entfernen sich doch im nächsten Moment wieder. Ihre Arbeiten bergen viele Perspektiven und greifen mit Titeln wie „How to Leave“ oder „Aigainst the Evil Eye“ nonchalant gehaltvolle Themen von allgegenwertiger Relevanz auf. Das Nachdenken über das (eigene) Ableben, der Aberglaube an Unvorstellbares oder die Wahl der richtigen Grabbeigabe.
Bevor Grassl malt, schneidet und klebt sie kleinformatige Papierarbeiten, die wie Bozzetti für ihre späteren Gemälde fungieren. Ausschnitte ihrer eigenen Malerei, monochromen Papiers oder Bruchstücke aus Hochglanzmagazinen fügen sich in kleinen Schaukästen, die wie Dioramen anmuten, zu vorbereitenden Modellen.
Sie laden dazu ein, Strukturen, Schatten, Formen bis ins Detail, förmlich haarklein zu betrachten. Mit der Übersetzung in die Malerei geht eine deutliche Weitung des Formats einher. Die Künstlerin bleibt bei diesem Medienwechsel allerdings ihrer Technik treu und so bedient sie sich einer Malerei nach dem Prinzip der Collage, die wie beim Arbeiten mit dem Papier in vielen Schichten Partien mal freistehen lässt, mal verdeckt. Die Bilder verbergen ihre Schichtung feiner Farbebenen nicht, vielmehr stellen sie diese zur Schau – je näher man ihnen kommt, desto formal vielschichtiger werden sie, tritt man weiter zurück, desto schwächer werden die Spuren einstiger Farbflächen und man ist geneigt, dem großen Ganzen, den inhaltlichen Schichten seine Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.
Betrachtet man beispielsweise die Bilder der „Souls“ oder „Transformationen“ Reihe verfängt man sich auf gleich zweierlei Weise umgehend in ihnen: Zum einen ist es die Ratio, unser nach Ordnung und Orientierung suchender Geist, der nicht der Versuchung widerstehen kann, in den Bildern eine Logik, ein System erkennen zu wollen. Auf der anderen Seite verleiht die intuitive Wahrnehmung zusammen mit den Titeln, etwa auch jenem der Serie selbst „How to Leave“, den Gestalten, Farben bzw. den Formationen im Raum einen eindrücklichen Inhalt, eine sinnliche Freiheit. Denn es geht – ob formal, oder inhaltlich – ums Dasein und Verschwinden, es geht um ein Loslassen oder besser Befreien. Mal sind die Farben voller Kontraste, mal treten sie in Verläufen auf, mal heben sie sich nur
zart voneinander ab. Die Vorstellungen eines unbestimmten Dunkels, eines ewigen Lichts, eines tiefen Abgrunds oder einer übermenschlichen Höhe werden nicht nur durch das Kolorit, sondern auch durch die Ausschnitte, die mal im Negativ, mal im Positiv arrangiert werden, vermittelt. Ihre Bilder verfügen über die Kraft auf der zweidimensionalen Ebene eine Unendlichkeit aufzuspannen. Diese wird bestimmt von einem Bilden, Wandeln und Schwinden der Dinge und Formen. In Serien wie „How to Leave“ arbeitete die Künstlerin etwa mit besonderen Erdpigmenten, die ihre gehaltvollen Entstehungswege in die Werke mithineintragen. Das Voranschreiten der Zeit bekommt dadurch eine ganz konkrete Ebene im Bild.
Es gibt viele Möglichkeiten, über Collage nachzudenken. So kann man etwa sich selbst vielschichtig denken und angeregt durch Grassls letzte Serien über Unvorstellbares wie etwa die Existenz eines Seelenlebens nachsinnen. Der Glaube an Dinge, die wir nicht fassen, nicht sehen können und auf welchen Wegen sich diese doch visualisieren lassen, ist ein Kernanliegen ihres Arbeitens. Nicht nur sich selbst als collagiert, sondern auch die eigene Umgebung als solche wahrzunehmen, wird durch ihre Bilder stimuliert, in denen sich oftmals, vorbereitet durch die dreidimensionalen Papiermodelle, besondere Raumsituationen bilden.
Architektur, die uns umgebenden Räume vor allem der öffentlich Raum der Stadt, so Werner Oechslin, sind Collagen, „mit ihren vielfach bedingten Überlagerungen, unterschiedlichen Architektursprachen und widersprüchlichen Voraussetzungen“[1] wirken sie auf uns. Für ArchitektInnen bedeute das unmittelbar, man müsse sich von der „totalen Verwirklichung der modernen Stadt“ verabschieden und sich mit der „auf verschiedenen Wegen ins Blickfeld zurückgeholte(n) ‚Geschichte‘“[2]fortlaufend konfrontieren und arrangieren. In Bezug auf Judith Grassls Bilder passiert dies mit einer ebenso großen Sensibilität für die Geschichte, besonders die Historie der Kunst. In ihren Bildern finden sich vielerlei Bezüge neben Höch, etwa Casper David Friedrich, oder auch Sergej Eisensteins Film „Que viva México!“. Die Künstlerin interessiert sich für Dinge, die bereits vorhanden sind und wie diese auf das Jetzt, oder sogar auf die Zukunft Einfluss nehmen.
In ihrer frühen Serie „Das Große Gehege“ geht es um das gleichnamige Bild Friedrichs und besonders dessen zeitlichen Eklektizismus. Denn es ist ein Bild, das zum Zeitpunkt seiner Entstehung, 1832, als wagemutig aufgefasst worden ist, zeigt es doch versammelt in einem Landschaftsgemälde unterschiedliche zeitliche Situationen und verfügt es doch nicht über die den Sehgewohnheiten der Betrachtenden so liebgewonnen zeitlichen Begrenzungen. Friedrichs Bild wird ewig, seine Landschaft weitet sich räumlich wie zeitlich. Durch diese besondere Arbeitsweise vermag er das ungleichzeitige Gleichzeitig darzustellen. Es sind eben diese Momente, die Grassl in ihrer Serie aufgreift und dimensional ausweitet. Denn man gewinnt bei ihren Werken den Eindruck, auf höchste Höhen und in tiefste Tiefen zu schauen, wobei die dargebotenen Materialien ihre verschiedenen Aggregatzustände zu durchlaufen scheinen. Sie befinden sich in unendlich langsamer Bewegung. Es ist dieser ganz besondere Umgang mit Zeitlichkeit, der von Beginn an, förmlich mit dem ersten Schnitt für das Papiermodell seinen Anfang nimmt und der Grassls Bilder unverkennbar macht. Betrachtet man ihren Arbeitsprozess, ihre Themen, ihren Zugang zum Material bis hin zum Licht, so leuchtet unmittelbar ein, dass sich für sie die digitale Bearbeitung der Bilder ausschließt. Ihre Werke würden sich all ihrer Achtsamkeit entledigen, Spuren würden geglättet und Oberflächen uniformiert - und nicht zuletzt ließe sich das Ergebnis unendlich reproduzieren. Judith Grassls Bilder verdichten Zeit und Raum in all ihren Ebenen. Sie verbergen und offenbaren und gleichen dabei in ihrer Wirkweise unserem Erinnerungsvermögen. Dinge treten in den Hintergrund. Dinge bleiben konkret. Dinge gehen unter, oder treten wieder zu Tage. Über unser Gedächtnis und nicht zuletzt über ihre Bilder legt sich in ausufernder Enge ein matter Schimmer.
FORMING BEING DWINDLING
Judith Grassl's pictures are – in form as well as in content – multilayered. They are as clear as they are transfiguring. As open as closed. Organic, inorganic, pointed and soft. Her works play with their levels of reality: There are pictures of pictures in them, plant leaves seem like paper, the supposedly ideal strand of hair is finely painted and the wooden board is painted wooden. Like the forms, completely different painting styles are extracted and juxtaposed. Max Ernst summarized this phenomenon so aptly with the following words: “Collage technique is the systematic exploitation of the coincidental or artificially provoked meeting of two or more realities that are foreign to each other on a level that is apparently unsuitable for this purpose – and the spark of poetry that jumps over when these realities come together.”1 In their different levels of meaning, their “foreign to each other realities”, Judith Grassl's paintings sometimes come very close to us and yet in the next moment they distance themselves again. Her works harbor many perspectives and , with titles such as “How to Leave” or “Against the Evil Eye” nonchalantly take up substantial themes of ubiquitous relevance. Reflecting on (one's own) demise, superstition of the unimaginable, or choosing the right burial gift.
Before Grassl paints, she cuts and glues small-format works on paper that function like bozzetti for her later paintings. Clippings of her own paintings, monochrome paper, or fragments from glossy magazines combine to form preparatory models in small display cases that resemble dioramas. They invite the viewer to look at structures, shadows, forms down to the last detail, literally down to the hair. The translation into painting is accompanied by a clear widening of the format. In this change of medium, however, the artist remains true to her technique and thus uses painting based on the principle of collage, which, as when working with paper in many layers, sometimes leaves parts exposed, sometimes concealed. The paintings do not hide their layering of fine color planes, rather they put them on display – the closer you get to them, the more formally complex they become, if you step further back, the fainter the traces of former color planes become and you are inclined to pay attention to the big picture, the layers of content.
If you look at the pictures of the “Souls” or "Transformations" series, for example, you immediately get caught up in them in two ways: On the one hand, it is the ratio, our mind searching for order and orientations, which cannot resist the temptation to want to recognize a logic, a system in the images. On the other hand, intuitive perception, together with the titles, such as that of the series itself “How to Leave”, lends the figures, colors, or formations in space an impressive content, a sensual freedom. For it is – whether formally or in terms of content – about existence and disappearance, it is about letting go or better to liberate. Sometimes the colors are full of contrasts, sometimes they appear in gradients, sometimes they only delicately stand out from each other. The ideas of an indefinite darkness, an eternal light, a deep abyss or a superhuman height are conveyed not only by the coloring, but also by the cutouts, which are sometimes arranged as a negative, sometimes as a positive. Her paintings have the power to span an infinity on the two-dimensional plane. This is determined by a forming, changing and dwindling of things and forms. In series such as “How to Leave”, for example, the artist worked with special earth pigments, which bring their substantial ways of origin into the works. The progression of time thus acquires a very concrete level within the painting.
There are many ways to think about collage. For example, one can think of oneself in many ways and, inspired by Grassl's latest series, ponder the unimaginable, such as the existing of a soul life. The belief in things that we cannot grasp, that we cannot see, and the ways in which these can nevertheless be visualized, is a core concern of her work. To perceive not only oneself as collaged, but also one's surroundings as such, is stimulated by her paintings, in which special spatial situations are often formed, prepared by the three-dimensional paper models. Architecture, the spaces surrounding us, especially the public space of the city, according to Werner Oechslin, are collages, “with their multiply conditioned superimpositions, different architectural languages and contradictory premises”2 have an effect on us. For architects, this immediately means that one must say goodbye to the “total realization of the modern city” and continuously confront and arrange oneself with the „history brought back into the field of visions in various ways“3.
In relation to Judith Grassl's paintings, this happens with an equally great sensitivity to history, especially the history of art. In her paintings there are many references besides Hannah Höch, for example Caspar David Friedrich, or also Sergej Eisenstein's film “Que viva Mexico!”. The artist is interested in things that already exist and how they influence the present, or even the future.
Her early series “Das große Gehege” is about Friedrich's painting of the same name and especially about its temporal eclecticism. For it is a picture that at the time of its creation, in 1832, was seen as daring, since it shows different temporal situations gathered together in a landscape painting, and yet it does not have the temporal boundaries so dear to the viewing habits of the viewer. Friedrich's painting becomes eternal, his landscape expands both spatially and temporally. Through his special way of working, he is able to depict the simultaneous, which is not simultaneous at all. It is precisely these moments that Grassl takes up in her series and expands them dimensionally. For in her works one gets the impression of looking up to the highest heights and down to the deepest depths, whereby the materials presented seem to pass through their various aggregate states. They are in infinite slow motion. It is this very special handling of temporality, which starts from the very beginning, formally with the first cut for the paper model, that makes Grassl's paintings unmistakable. Her pictures condense time and space in all their levels. They conceal and reveal and thereby resemble our capacity for remembering in their mode of action. Things recede into the background. Things remain concrete. Things disappear or come to light again. A dull gleam sprawls over our memory and not least over her paintings.
– Jutta Teutenberg –
24.09. 2021 – 05.11.2021
https://www.platform-muenchen.de/projekte/fruehling-der-jungen-jahre-von-malso13/
BILDEN SEIN SCHWINDEN
Judith Grassls Bilder sind - formal wie inhaltlich - vielschichtig. Sie sind ebenso klar wie verklärend. So offen wie geschlossen. Organisch, anorganisch, spitz und weich. Ihre Arbeiten spielen dabei mit ihren Wirklichkeitsebenen: da finden sich Bilder von Bildern in ihnen, da muten Pflanzenblätter wie Papier an, da ist die vermeintlich ideale Haarsträhne feinmalerisch und das Holzbrett hölzern gemalt. Wie auch die Formen werden ganz unterschiedliche Malweisen extrahiert und nebeneinandergestellt. Max Ernst fasste dieses Phänomen so treffend mit folgenden Worten zusammen: „Collage-Technik ist die systematische Ausbeutung des zufälligen oder künstlich provozierten Zusammentreffens von zwei oder mehr wesensfremden Realitäten auf einer augenscheinlich dazu ungeeigneten Ebene - und der Funke Poesie, welcher bei der Annäherung dieser Realitäten überspringt.“[1] In ihren unterschiedlichen Bedeutungsebenen, ihren „wesensfremden Realitäten“ kommen uns Judith Grassls Bilder mal ganz nah und entfernen sich doch im nächsten Moment wieder. Ihre Arbeiten bergen viele Perspektiven und greifen mit Titeln wie „How to Leave“ oder „Aigainst the Evil Eye“ nonchalant gehaltvolle Themen von allgegenwertiger Relevanz auf. Das Nachdenken über das (eigene) Ableben, der Aberglaube an Unvorstellbares oder die Wahl der richtigen Grabbeigabe.
Bevor Grassl malt, schneidet und klebt sie kleinformatige Papierarbeiten, die wie Bozzetti für ihre späteren Gemälde fungieren. Ausschnitte ihrer eigenen Malerei, monochromen Papiers oder Bruchstücke aus Hochglanzmagazinen fügen sich in kleinen Schaukästen, die wie Dioramen anmuten, zu vorbereitenden Modellen.
Sie laden dazu ein, Strukturen, Schatten, Formen bis ins Detail, förmlich haarklein zu betrachten. Mit der Übersetzung in die Malerei geht eine deutliche Weitung des Formats einher. Die Künstlerin bleibt bei diesem Medienwechsel allerdings ihrer Technik treu und so bedient sie sich einer Malerei nach dem Prinzip der Collage, die wie beim Arbeiten mit dem Papier in vielen Schichten Partien mal freistehen lässt, mal verdeckt. Die Bilder verbergen ihre Schichtung feiner Farbebenen nicht, vielmehr stellen sie diese zur Schau – je näher man ihnen kommt, desto formal vielschichtiger werden sie, tritt man weiter zurück, desto schwächer werden die Spuren einstiger Farbflächen und man ist geneigt, dem großen Ganzen, den inhaltlichen Schichten seine Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.
Betrachtet man beispielsweise die Bilder der „Souls“ oder „Transformationen“ Reihe verfängt man sich auf gleich zweierlei Weise umgehend in ihnen: Zum einen ist es die Ratio, unser nach Ordnung und Orientierung suchender Geist, der nicht der Versuchung widerstehen kann, in den Bildern eine Logik, ein System erkennen zu wollen. Auf der anderen Seite verleiht die intuitive Wahrnehmung zusammen mit den Titeln, etwa auch jenem der Serie selbst „How to Leave“, den Gestalten, Farben bzw. den Formationen im Raum einen eindrücklichen Inhalt, eine sinnliche Freiheit. Denn es geht – ob formal, oder inhaltlich – ums Dasein und Verschwinden, es geht um ein Loslassen oder besser Befreien. Mal sind die Farben voller Kontraste, mal treten sie in Verläufen auf, mal heben sie sich nur
zart voneinander ab. Die Vorstellungen eines unbestimmten Dunkels, eines ewigen Lichts, eines tiefen Abgrunds oder einer übermenschlichen Höhe werden nicht nur durch das Kolorit, sondern auch durch die Ausschnitte, die mal im Negativ, mal im Positiv arrangiert werden, vermittelt. Ihre Bilder verfügen über die Kraft auf der zweidimensionalen Ebene eine Unendlichkeit aufzuspannen. Diese wird bestimmt von einem Bilden, Wandeln und Schwinden der Dinge und Formen. In Serien wie „How to Leave“ arbeitete die Künstlerin etwa mit besonderen Erdpigmenten, die ihre gehaltvollen Entstehungswege in die Werke mithineintragen. Das Voranschreiten der Zeit bekommt dadurch eine ganz konkrete Ebene im Bild.
Es gibt viele Möglichkeiten, über Collage nachzudenken. So kann man etwa sich selbst vielschichtig denken und angeregt durch Grassls letzte Serien über Unvorstellbares wie etwa die Existenz eines Seelenlebens nachsinnen. Der Glaube an Dinge, die wir nicht fassen, nicht sehen können und auf welchen Wegen sich diese doch visualisieren lassen, ist ein Kernanliegen ihres Arbeitens. Nicht nur sich selbst als collagiert, sondern auch die eigene Umgebung als solche wahrzunehmen, wird durch ihre Bilder stimuliert, in denen sich oftmals, vorbereitet durch die dreidimensionalen Papiermodelle, besondere Raumsituationen bilden.
Architektur, die uns umgebenden Räume vor allem der öffentlich Raum der Stadt, so Werner Oechslin, sind Collagen, „mit ihren vielfach bedingten Überlagerungen, unterschiedlichen Architektursprachen und widersprüchlichen Voraussetzungen“[1] wirken sie auf uns. Für ArchitektInnen bedeute das unmittelbar, man müsse sich von der „totalen Verwirklichung der modernen Stadt“ verabschieden und sich mit der „auf verschiedenen Wegen ins Blickfeld zurückgeholte(n) ‚Geschichte‘“[2]fortlaufend konfrontieren und arrangieren. In Bezug auf Judith Grassls Bilder passiert dies mit einer ebenso großen Sensibilität für die Geschichte, besonders die Historie der Kunst. In ihren Bildern finden sich vielerlei Bezüge neben Höch, etwa Casper David Friedrich, oder auch Sergej Eisensteins Film „Que viva México!“. Die Künstlerin interessiert sich für Dinge, die bereits vorhanden sind und wie diese auf das Jetzt, oder sogar auf die Zukunft Einfluss nehmen.
In ihrer frühen Serie „Das Große Gehege“ geht es um das gleichnamige Bild Friedrichs und besonders dessen zeitlichen Eklektizismus. Denn es ist ein Bild, das zum Zeitpunkt seiner Entstehung, 1832, als wagemutig aufgefasst worden ist, zeigt es doch versammelt in einem Landschaftsgemälde unterschiedliche zeitliche Situationen und verfügt es doch nicht über die den Sehgewohnheiten der Betrachtenden so liebgewonnen zeitlichen Begrenzungen. Friedrichs Bild wird ewig, seine Landschaft weitet sich räumlich wie zeitlich. Durch diese besondere Arbeitsweise vermag er das ungleichzeitige Gleichzeitig darzustellen. Es sind eben diese Momente, die Grassl in ihrer Serie aufgreift und dimensional ausweitet. Denn man gewinnt bei ihren Werken den Eindruck, auf höchste Höhen und in tiefste Tiefen zu schauen, wobei die dargebotenen Materialien ihre verschiedenen Aggregatzustände zu durchlaufen scheinen. Sie befinden sich in unendlich langsamer Bewegung. Es ist dieser ganz besondere Umgang mit Zeitlichkeit, der von Beginn an, förmlich mit dem ersten Schnitt für das Papiermodell seinen Anfang nimmt und der Grassls Bilder unverkennbar macht. Betrachtet man ihren Arbeitsprozess, ihre Themen, ihren Zugang zum Material bis hin zum Licht, so leuchtet unmittelbar ein, dass sich für sie die digitale Bearbeitung der Bilder ausschließt. Ihre Werke würden sich all ihrer Achtsamkeit entledigen, Spuren würden geglättet und Oberflächen uniformiert - und nicht zuletzt ließe sich das Ergebnis unendlich reproduzieren. Judith Grassls Bilder verdichten Zeit und Raum in all ihren Ebenen. Sie verbergen und offenbaren und gleichen dabei in ihrer Wirkweise unserem Erinnerungsvermögen. Dinge treten in den Hintergrund. Dinge bleiben konkret. Dinge gehen unter, oder treten wieder zu Tage. Über unser Gedächtnis und nicht zuletzt über ihre Bilder legt sich in ausufernder Enge ein matter Schimmer.
© Judith Grassl 2021 | Imprint
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